Was heißt hier "Systemrelevanz"? Luhmaniac - Special - a podcast by J. Feltkamp, U.Sumfleth

from 2020-04-26T20:38:31

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Systemrelevanz: Was ist das eigentlich?

Wir retten Banken, weil sie „too big to fail” sind. Fridays For Future fordern „system change, not climate change”. Und in der Coronakrise erklärt die Gesellschaft ihr Klinikpersonal für systemrelevant. Drei globale Debatten – Zeit, sich das Schwurbelwort näher anzusehen. Welches System ist jeweils gemeint? Wessen Perspektive wird dabei eingenommen? Reden wir über das Gleiche? Eine Einordnung mithilfe der Theorie sozialer Systeme nach Niklas Luhmann. Dabei unterscheiden wir Kommunikationssysteme von Handlungssystemen.Luhmanns Theorie sozialer Systeme besagt, dass Gesellschaft durch Kommunikation evoluiert: Sie entwickelt sich durch Kommunikation. Ob zum Guten oder Schlechten, ist dahingestellt. In diesem Special fragen wir uns in Form eines Schlagabtauschs, ob und wie man den wirren Gebrauch des Modewortes Systemrelevanz mit Luhmanns Theorie einordnen kann.

Wie sich zeigt, lässt sich das Phänomen nicht allein von der Kommunikationsebene erfassen. Soziale Systeme wie Politik, Wirtschaft oder Gesundheit operieren zwar durch Kommunikation. Aber man muss sie auch als Handlungssysteme begreifen, die einer jeweils eigenen Zweckrationalität unterliegen. Nur wenn man die Funktion des Systems versteht und seine Zwecke von Zielen unterscheidet, scheint erfolgversprechende Kommunikation möglich. Ein System kann man nicht „changen”. Erst Ziele sind verhandelbar.Unsere Gesprächsthemen sind

Was sind Systeme?Welche Arten von Systemen gibt es?
Woher kommt Luhmanns Theorie?Forschung zu Organismen
Prozesshaftigkeit der EvolutionLuhmanns Übertragung der Autopoiesis auf Kommunikation
Was sind Funktionssysteme?
Wie konnten sie entstehen?Funktionale Ausdifferenzierung von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft usw.
Selbstrekursivität von SystemenSystemrelevanz als politischer Begriff mit rechtlichen Folgen: Banken werden stärker reguliert, Berufsgruppen genießen im Krisenfall Sonderrechte
Banken als Subsystem der WirtschaftEinzigartige hierarchische Systemorganisation: Konsumenten, Banken, Zentralbank
Psychologische Gründe für BankenrettungWechsel auf die Ebene von Handlungssystemen
Kommunikationssysteme müssen auch als Handlungssysteme mit Zweckrationalität begriffen werden (Luhmann 1973: „Zweckbegriff und Systemrationalität“)Zwecke als programmatische Anleitungen zu Entscheidungen (z.B. Parteiprogramme)
Zwecke als Ziele von HandlungNormative Bedeutung für die Handelnden
Per definitionem erstrebenswert: Zwecke werden nicht in Frage gestelltZwecke lassen das Handeln alternativlos erscheinen
Zwecke als blinder FleckZiele sind verhandelbar

Weitere Aspekte der globalen DebattenSystemrelevanz als Frage der persönlichen Betroffenheit
Systemrelevanz als Medien-Frame mit populistischem CharakterRelevanz als Perspektivfrage: Wikipedia fokussiert auf die Sicht von Banken und Großunternehmen
Relevanz aus Gesellschaftsperspektive: Staat, Gewaltenteilung, Parlamente u.v.m.Fridays For Future: Dreifach-Adressierung an Politik, Wirtschaft, Gesellschaft
Vorteil: viele DebattenNachteil: Unterdifferenzierungen, Ebenenverlagerung, Verwässerung
Klimaschutz: Systemrelevanz als Frage von globalem RechtRisiken für Konzerne oder Regierungen bedeuten Gefahren für die Gesellschaft
Barrieren der Kommunikation überwinden: Wie stellt man die „richtigen” Fragen?Unser Fazit

Der anfangs negativ konnotierte Begriff „Systemrelevanz” hat sich zu einem populistischen Medien-Frame gewandelt und wird in beliebigen Kontexten verwendet. In Debatten muss gefragt werden, welches System im konkreten Fall gemeint ist und wessen Perspektive (nicht) eingenommen wird.Debatten über „System Change” erfordern es, die Funktion eines Systems zu verstehen: Was leistet es für die Gesellschaft, was ist schützenswert? Zwecke, die der Funktion dienen, lassen sich kaum hinterfragen. Ziele sind dagegen variabel und verhandelbar – solange die Zweckrationalität des Systems in der Argumentation plausibel gewahrt wird.

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