Bernardine Evaristo: Girl, Woman, Other - a podcast by Irmgard Lumpini, Anne Findeisen & Herr Falschgold

from 2021-10-24T03:00:11

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Was ist das Beste am Lesen? Das Eintauchen in andere Welten, seien sie utopisch, dystopisch, fantastisch, dokumentarisch, fiktiv, historisch, in anderen Sprachen, Sprechwelten, Denkweisen, schwer, unterhaltsam, romantisch, unser Bild der Welt bestätigend oder zerstörend, eine Öffnung für anderes durch ein Versinken oder Abgestoßensein.

Das heute hier vorgestellte Girl, Woman, Other der britischen Autorin Bernardine Evaristo beschreibt in 4 Kapiteln die Leben von 11 Frauen und einer nichtbinären Person, in jedem Kapitel werden 3 Protagonisten in den Mittelpunkt gestellt, die Kapitel tragen ihre Vornamen. Dabei stehen die meist schwarzen Frauen teilweise in familiären Beziehungen zueinander, einige verbinden gemeinsame Lebensabschnitte wie z.B. eine gemeinsame Schulzeit oder das Studium. Die meisten leben in London.

Es gibt verschiedene Zeitebenen. Eine der Protagonistinnen, die viele der Charaktere als Verbindung haben ist Amma, eine lesbische schwarze und etablierte Künstlerin, deren neuestes Theaterstück am Abend uraufgeführt werden wird. Im 5. Kapitel, nachdem Girl, Woman, Other die verschiedenen Leben, ihre Umstände und Ereignisse über nahezu 100 Jahre offenbart, finden wir uns auf der Afterparty der Uraufführung wieder.

In einem Epilog baut Bernardine Evaristo dann ein Finale in allerfeinster Soap Opera Manier.

In den einzelnen Kapiteln sehen wir die Innenansichten der Protagonistinnen, die auch ihre Haltung oder Erlebnisse mit anderen der Frauen schildern. Dadurch verschieben sich häufig Annahmen über sie, die durch in anderen Kapiteln getroffene Aussagen entstanden sind. Elterliche Prägung, Traumata, Freundschaften, Liebe, Sexualität, Gesellschaft und ihre Vorurteile, Rassismus und Aufstiegsmöglichkeiten sind einige der Themen, die immer wieder aus unterschiedlichen Perspektiven gezeigt werden. Ein weiteres Thema, das häufig durch die Protagonistinnen diskutiert wird, ist Feminismus und ihre unterschiedlichen Ansichten über die letzten Jahrzehnte. Manchmal - zum Glück nicht oft - kommt man sich wie in einem Proseminar der Gender Studies vor, auf der anderen Seite schadet es rein gar nichts, darüber etwas zu lernen.

Als Motivation für Girl, Woman, Other gab Bernardine Evaristo, Tochter einer weißen Britin und eines nigerianischen Vaters an, dass sie frustriert war, dass schwarze britische Frauen in der Literatur nicht sichtbar sind und wollte etwas gegen ihre Abwesenheit unternehmen.

Die Leben ihrer Protagonistinnen reichen von Teenagern bis zu einer Frau in ihren 90ern, die jedoch nicht immer linear beschrieben werden. 

Girl, Woman, Other ist ein Werk, dessen Welt vielen nicht bekannt ist, weil wir bisher nicht viele Gelegenheiten hatten, über sie zu lesen.

Es dauerte für mich ein wenig, bis ich mich mit dem Stil des Buches zurecht fand: es gibt kaum Punkte, der Rhythmus wird durch die Zeileneinteilungen vorgegeben, die den Fluss beschleunigen oder verlangsamen, ein Hybrid aus Prosa und Poesie.

Girl, Woman, Other unterstützt eine Verschiebung des Mainstreams, der uns, die wir in der sächsischen Provinz leben, zunächst durch Fernsehserien wie The L-Word, Sense8, Orange Is The New Black, Transparent oder Tales of the City begegnete. Durch politische Initiativen wie Black Lives Matter und metoo, die sich mit (Über)Leben und dem Weiterleben nach traumatischen Erlebnissen auseinandersetzen und bestehende Verhältnisse radikal ändern wollen, um eine gerechtere Gesellschaft für alle, die vor der Überwindung des Rassismus die Anerkennung von weißen Privilegien als Voraussetzung sehen und die Überwindung von patriarchalen Strukturen für unabdingbar halten, wird die Kunst der lebenden Bilder in konkreten Bewegungen unterstützt. 

Durch beides wird die Sichtbarkeit verbreitert, unterschiedliche Lebensformen sind vorstellbarer, unterschiedliche Lebensrealitäten bekannter und tiefer im öffentlichen Bewusstsein verankert, und so werden Leben, die einst als exotisch, abweichend oder gar abstoßend empfunden wurden zum Kanon des Möglichen hinzugefügt, der Mainstream verschiebt sich nicht nur, sondern wird verbreitert.

Dabei ist die Frage nach der Zugehörigkeit zum Mainstream eine, die nicht wenige der Protagonisten in Girl, Woman, Other beschäftigt. Ist sie als Ausverkauf an das Establishment ein Verrat oder kann sie ein Erfolg sein? Die Protagonistinnen finden unterschiedliche Antworten.

Bernardine Evaristo, die den Titel einer MBE verliehen bekam und in Großbritannien eine bekannte und renommierte Autorin ist, sprach in einem Interview kurz nach der Wahl von Trump zum Präsidenten der USA ihre Vermutung aus, dass in der Zukunft mehr Bücher geschrieben würden, die sich entweder satirisch mit ihm auseinandersetzen oder aber eine solidarische Gesellschaft zum Thema hätten.

Girl, Woman, Other ist der letzteren Kategorie zuzuordnen. Vor wenigen Tagen wurde dem Werk, welches nicht in deutscher Übersetzung* vorliegt (wie übrigens bisher keines der 9 Bücher von Bernardine Evaristo), der diesjährige Booker Prize zuerkannt, den seit 50 Jahren der von einer Jury ausgewählte beste englischsprachige Roman des Jahres erhält. Sie ist die 1. schwarze Frau, die damit ausgezeichnet wurde. Kritik gab es vor allem dafür, dass sie sich diesen Preis mit einer anderen teilen musste: Margaret Atwood, die für die Fortsetzung ihres Romans “The Handmaid’s Tale”, “The Testaments” prämiert wurde. Auf den Fotos der Ausgezeichneten sehen beide glücklich aus, wie eine Reminiszenz an den Schluss von Girl, Woman, Other: 

“this is about beingtogether.”

* Mittlerweile liegt eine deutsche Übersetzung mit dem unschönen Titel “Mädchen, Frau etc.” vor. (WTF?! Other ist nicht etc.)

In der nächsten Ausgabe wird diskutiert, wie immer schön ruhig.

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