Joachim Meyerhoff: "Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke" - a podcast by Irmgard Lumpini, Anne Findeisen & Herr Falschgold

from 2021-10-17T03:00:50

:: ::

Als ich im Sommer Joachim Meyerhoffs Buch Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke geschenkt bekam, war mir der Autor bis dato gänzlich unbekannt. Ein Blick ins Internet genügte, um herauszufinden, dass es sich bei Joachim Meyerhoff nicht nur um einen Schriftsteller, sondern auch Regisseur und in der Hauptsache Schauspieler handelt. Mit seinem 2015 im Verlag Kiepenheuer & Witsch veröffentlichten Roman, befinden wir uns bereits im dritten Band seiner Reihe: Alle Toten fliegen hoch.

In diesem beschreibt er autobiographisch seine Zeit, in der er, für ihn selbst überraschenderweise, auf der Schauspielschule in München angenommen wurde und sein damit verbundenes Zusammenleben mit seinen Großeltern in deren Villa, in der Nähe des Nymphenburger Parks. Das sogenannte rosa Zimmer im großelterlichen Haus bezog er in Ermangelung einer eigenen Wohnung und es sollte ursprünglich nur übergangsweise als Wohnstätte dienen, wurde aber schließlich zu seinem zu Hause, während seiner gesamten Schauspielausbildung.

Bereits im ersten Kapitel des Buches, welches den Titel Fünf Etappen trägt, wird dem Leser sehr eindrucksvoll der Alltag von Großmutter Inge und Großvater Hermann, der von Ritual, Disziplin und Skurrilität geprägt ist, geschildert. Bei den fünf Etappen handelt es sich um Getränke, deren Einnahme den Tag strukturieren. Punkt neun Uhr morgens beginnen sie ihren Tag mit einem Glas Champagner, wodurch es ihnen, wie Meyerhoff uns wissen lässt, gleich viel besser geht. Punkt ein Uhr zum Mittagessen folgt der Weißwein, es schließt sich der Sechs-Uhr-Whiskey an, dem Rotwein und geistreiche Konversation zum Abendessen folgen. Abgerundet und das Ende des Abends einläutend, gibt es schließlich Cointreau. Dieser, den Großeltern scheinbar nichts-anhaben-könnender, täglich aufs Neue stattfindende Konsum und Rausch, setzt Joachim, oder Lieberling, wie ihn die Großmutter gerne nennt, zunächst noch zu.

„Am nächsten Morgen, Punkt halb acht klopfte meine Großmutter an meine Tür, um mich zu wecken. Sie sah wie immer blendend aus, duftete nach »Shalimar«. Auch mein Großvater sah zu mir herein, frisch wie nach drei Wochen Urlaub in den Bergen. Nie sah man ihnen an, dass sie so viel tranken. Doch ich war wie krank. Todkrank. Und dann ging alles wieder von vorne los. Oft hörte ich, während ich meinen Kopf kaum vom rosa bezogenen Kopfkissen hochbekam, wie unten die barfüßige Haushälterin schon wieder den Korken aus der Champagnerflasche knallte. Nie war ich so zerrüttet wie nach ein paar Tagen bei meinen Großeltern.“ (S.33/34)

Das Zusammenleben mit Großmutter Inge, einst selbst erfolgreiche Schauspielerin und durch einen schweren Unfall, nicht nur ihres ersten Ehemanns, sondern auch einen Teil ihre Beins beraubt und Großvater Hermann, seines Zeichens Philosoph und von besonderer Akribie geprägt, steht im völligen Gegensatz zu seiner Ausbildung an der Schauspielschule. Sich selbst fragend, wie er die Aufnahmeprüfung bestehen konnte und ob er überhaupt Schauspieler werden möchte, hangelt sich Meyerhoff durch seine Ausbildung, stets in dem Gefühl, die an ihn gestellten Erwartungen nicht erfüllen zu können, überzeugt davon, nicht einmal das Probehalbjahr zu überstehen, auf der Bühne stehen und nicht gesehen werden wollend und glücklich, es bis zum Sechs-Uhr-Whiskey wieder in den Schutz des großelterlichen Hauses zurück geschafft zu haben.

„Nur bei meinen Großeltern schloss sich allabendlich die Lücke und ihre Vertrautheit und Zugewandtheit, ihr aus Hochprozentigem geknüpftes Netz fingen mich sicher auf.“ (S.136)

Neben diesen gegensätzlichen Welten, in denen sich der Protagonist bewegt, gibt es auch immer wieder Rückblicke, sei es in das Leben der Großeltern, der Mutter oder sein eigenes. Auch der Verlust ist ein entscheidendes Thema im Roman, angefangen beim Tod des mittleren Bruders, der eine entscheidende Lücke in Joachim Meyerhoffs Leben zurücklässt. Und doch ist die Trauer um ihn etwas, an dem er sich festhalten kann und die ganz und gar ihn selbst widerspiegelt. Das Lesen des Buches war für mich ein Wechselbad aus Heiter- und Traurigkeit. Hier und da hat mich Meyerhoffs Art des Erzählens an Heinz Strunk erinnert, der es ebenfalls versteht, etwas eigentlich zutiefst Trauriges so zu schildern, dass man nicht anders kann als zu lachen. Hierfür möchte ich das Buch noch einmal selbst bemühen und eine Szene aus der Trauerfeier des Großvaters zitieren:

„Danach saßen Verwandte, Freunde und die Familie im Haus der Großeltern zusammen, und meine Mutter fragte plötzlich in die eher ratlose Stille hinein: »Was waren eigentlich Hermanns letzte Worte?« Meine Großmutter überlegte. Aber meine Mutter hatte die Frage eher an sich selbst gerichtet, denn schon nach Kurzem sagte sie zu meiner Großmutter: »Er hat doch deine Hand gehalten und geflüstert: >Alles ist gut, Inge!<« Alle nickten zufrieden. Meine Großmutter dachte nach und rief plötzlich entrüstet:»So ein Humbug!, er hat doch als Letztes leise Prosit! geflüstert.« Ein erzkatholischer Philosoph dessen letztes Wort »Prosit!« ist. Ich sprang auf und rannte aus dem Zimmer, so sehr lachen musste ich.“ (S. 334)

Es verdeutlicht auch einmal mehr die spezielle Art der Großmutter, die einerseits so theatralisch und in ihrem Habitus überzeichnet erscheint andererseits liebevoll ist und stets als wunderschön beschrieben wird, wodurch ich zwangsläufig eine gewisse Bewunderung beim Lesen für sie empfand. Ihre ebenfalls große Leidenschaft für Dichter wie Paul Celan war schließlich nur noch das I-Tüpfelchen. Nichtsdestotrotz entsteht hier nicht der Eindruck, dass das Leben der Protagonisten verklärt wird. Immer wieder wird deutlich, dass das Leben der Großeltern einer strengen Routine folgt, in der alles seinen Platz hat, Möbelstücke immer an ein und derselben Stelle stehen müssen, Wanderungen bis ins kleinste Detail geplant sind und Abweichungen weder vorgesehen noch erwünscht sind. In diesen alltäglichen Handlungen entpuppt sich einerseits so viel Pedanterie und Sturheit, andererseits aber auch Zerbrechlich- und Hilflosigkeit, was in mir Faszination und Schwermut gleichermaßen auslöste. Und dann begegnen wir immer wieder diesen Lücken, die als Synonym für die Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit, für realen Verlust und dem Fehlen von Dingen stehen.

Meyerhoffs Buch ist für mich eine Liebeserklärung an seine Großeltern, die er mir als Leserin mit so viel Charme und Zärtlichkeit vor das geistige Auge führt, als wäre ich selbst dabei gewesen. Es ist aber auch ein Aufarbeitung seiner Trauer um den Verlust von Bruder und Vater und Ehrung der Beiden.

Ein fantastisches Buch, über das ich gern noch so viel mehr sagen würde, zukünftigen Erstlesern jedoch nicht zu viel vorweg nehmen möchte. Es ist eine Lust dieses Buch, welches traurig, tiefsinnig, lustig und äußerst bewegend zugleich ist, zu lesen. Es erhält daher meine ausgesprochene Empfehlung.

Schließen möchte ich mit einem Zitat aus Goethes „Die Leiden des jungen Werther“:

„Ach diese Lücke! Diese entsetzliche Lücke, die ich hier in meinem Busen fühle! - Ich denke oft, wenn du sie nur einmal, nur einmal an dieses Herz drücken könntest, diese ganze Lücke würde ausgefüllt sein.“

In der nächsten Woche gibt es einen Irmgard Lumpini Klassiker zu hören und zu lesen, nämlich Bernardine Evaristos “Girl, Woman, Other”.

Subscribe at lobundverriss.substack.com

Further episodes of Studio B

Further podcasts by Irmgard Lumpini, Anne Findeisen & Herr Falschgold

Website of Irmgard Lumpini, Anne Findeisen & Herr Falschgold