Marianne Philips: Die Beichte einer Nacht - a podcast by Irmgard Lumpini, Anne Findeisen & Herr Falschgold

from 2021-11-14T04:00:40

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Als Marianne Philips 1886 in Amsterdam geboren wird, scheint ihr Leben unter einem guten Stern und der Familie viele Möglichkeiten offen zu stehen, denn der Vater betreibt erfolgreich ein Kurzwarengeschäft und die Familie gehört dadurch dem wohlsituierten Mittelstand an. Das ändert sich jedoch durch den Tod des Vaters, noch bevor sie zwei Jahre alt wird und durch das Unvermögen des Stiefvaters, die Geschäfte gewinnbringend weiterzuführen, verarmt die Familie zusehends. Als Marianne dann im Alter von 14 Jahren auch noch ihre Mutter verliert, die im Wochenbett verstirbt, wird sie damit nicht nur zum Waisenkind, sondern muss sich auch um die jüngere Halbschwester sowie das Baby kümmern. Damit übernimmt sie bereits in jungen Jahren große Verantwortung indem sie beispielsweise den Haushalt versorgt und lernt zugleich, was es bedeutet, verzichten zu müssen. Ein Leben als Schriftstellerin scheint ihr keineswegs vorgezeichnet oder gar bestimmt zu sein. Erst im Alter von 40 Jahren, nachdem sie sich bereits seit fast 20 Jahren politisch engagiert, drei Kinder groß gezogen und einen Haushalt geführt hatte, entdeckte sie die Schriftstellerei für sich.

Ihr Roman Die Beichte einer Nacht wurde in den Niederlanden bereits 1930 und in Deutschland 2021 im Diogenes Verlag veröffentlicht und ist in der, zunächst etwas ungewohnten, Form des Monologs verfasst. Die Protagonistin Leentje auch Heleen oder Leen genannt, befindet sich in einer Nervenklinik, in der sie sich eines Nachts zur Nachtschwester setzt, mit der Bitte, ihr aus ihrem Leben erzählen zu dürfen. Es wird sehr schnell deutlich, was für ein großes Anliegen es ihr ist, der Nachtschwester ihre Lebensgeschichte anvertrauen zu können, wobei es weniger darum geht, wem sie diese erzählt, sondern vielmehr um die Möglichkeit sich zu offenbaren und erstmals alles Geschehene laut aussprechen zu können.

Dabei arbeitet sie sich chronologisch an ihrer Biographie ab, beginnend bei ihrer Zeit als ältestes von 10 Kindern. Der Kinderreichtum ihrer Eltern ist für sie eine Qual, denn durch diesen wird die Kutsche niemals leer, sondern bekommt mit jedem weiteren Kind einen neuen Anstrich, was für die Familie gleichbedeutend mit Armut ist und für Leentje noch mehr Verantwortung heißt. Ohnehin kann sie nicht verstehen, dass die Eltern überhaupt noch Kinder bekommen, da sie sich nie öffentlich küssen. Entscheidend ist jedoch das letzte Kind, dass die Mutter zur Welt bringt, als der Vater bereits seit fünf Jahren gelähmt an das Bett gebunden ist: Lientje. Da die Mutter zu dieser Zeit schon älter ist und kränkelt, kann sie das Baby nachts nicht bei sich haben und so wird die Wiege in Leentjes Zimmer, neben deren Bett gestellt. Zu dieser Zeit hat Leentje die Schule bereits verlassen und arbeitet bei einer Französin als Hilfskraft in einem Nähatelier, um die Familie auch finanziell zu unterstützen.

Bereits nach kurzer Lektüre wird deutlich wie Marianne Philips auf autobiographische Themen zurückgreift. Nicht nur die Versorgung von jüngeren Geschwistern kannte sie dabei aus eigener Erfahrung, auch half sie in der Schneiderwerkstatt ihres Stiefvaters aus. Ihre Protagonistin Leentje lebt in einem Spannungsfeld von Entbehrungen, in dem sie sich für alle Dinge, die ihr geschenkt werden, bedanken muss, ganz gleich ob sie ihr gefallen oder nicht. Sie ist sich aber gleichzeitig auch ihres guten Aussehens bewusst und strebt etwas Besseres für sich an. Diese Gegensätze werden an ihrem 15. Geburtstag besonders deutlich, als sie von den älteren Näherinnen ein Kleid geschenkt bekommt, dass sie nicht von einer positiven Zukunft träumen lässt, sondern ihr ihre Armut deutlich vor Augen führt:

„Das war ich und niemand anderes, das älteste Kind aus einer Familie, die von Almosen lebte – und zugleich war mir klar, dass ich mich jetzt freuen musste. Aber das konnte ich nicht, ich freute mich nicht, sondern hatte endgültig begriffen, das Arm-sein hässlich ist.“ (S.25)

Aber Leentje gelingt der berufliche Erfolg, der auch den von ihr gewünschten materiellen Luxus für sie mit sich bringt. Zudem prägen die ersten Männerbekanntschaften ihr Leben bis schließlich hin zu einer Ehe, die jedoch nur wenige Jahre hält und weniger von Liebe als zunächst viel mehr von Bewunderung geprägt ist. Während eben dieser Ehe, die für sie zunehmend zur Belastung wird, flüchtet sie für einige Tage und reist zu ihren Eltern. Ihre übrigen Geschwister, die ansonsten im Roman keine Rolle spielen, haben das Elternhaus bereits verlassen, sind verheiratet oder gehen anderweitig ihrer Wege. Nur die Kleinste, Lientje, lebt noch bei ihnen.

Diese wenigen Tage, die Leentje intensiv mit ihrer Mutter verbringt, beschreiben ergreifend und exemplarisch die Metamorphose vom Jugendlichen zum Erwachsenen. Wie Leentje als junges Mädchen bzw. junge Frau nichts anderes wollte, als der elterlichen Enge, den Pflichten und der Armut zu entfliehen. Wie sie es geschafft hat, erfolgreich zu sein und schließlich doch, in einer für sie sehr unglücklichen Lage, in eben dieses Elternhaus zurück flieht. Wie sie sich die Nähe der Mutter zurück sehnt und fast meint, nie hätte gehen zu müssen. Und schließlich weiß sie doch, „dass sich an dem, was einmal geschehen ist, nichts ändern lässt.“ (S.76) Aber die tiefgreifende Erkenntnis, wie sehr die Mutter sie schon immer geliebt hat, die sie eben erst jetzt erfassen kann und die ich als beispielhaft für das Erwachsenwerden empfinde, hat mich sehr bewegt. Überhaupt, die feinsinnigen Beschreibungen des Einander-Wahrnehmens und die Reblik auf ein Leben, mit dem Wissen vieler Jahre später, wusste Marianne Philips genau auf den Punkt zu bringen.

Leentje verlässt ihr Elternhaus mit dem Versprechen, dass sie ihrer blinden Mutter gegeben hat, die jüngere Schwester Lientje zu sich nehmen und für sie zu sorgen, wenn es der Mutter einmal nicht mehr möglich ist. Im weiteren Verlauf des Romans nimmt sie ihre Schwester dann schließlich auch bei sich auf, sie lässt sich scheiden und lernt ihre große Liebe Hannes kennen. Der Beginn dieser Liebe, der zunächst traumhaft schön ist, bedeutet letztlich den Wandel des Lebens aller Beteiligten auf einen Abgrund zu, der gleichzeitig das wichtigste Element oder Ereignis der so genannten Beichte ausmacht.

Die Beichte einer Nacht befasst sich sehr intensiv mit dem Innenleben und vor allem der Psyche seiner Protagonistin, ein Fakt, der für die Zeit der 1930er Jahre und in diesem Zeitraum entstandenen Romane keineswegs üblich war – schon gar nicht von weiblichen Autorinnen. Marianne Philips beschreibt eine Frau, die geprägt ist von dem Wunsch aus dem kinderreichen und von Armut geprägten Elternhaus auszubrechen und den sozialen Aufstieg aus eigener Kraft heraus zu schaffen. Sie wirkt dabei keineswegs bemitleidenswert sondern zielstrebig. Ihre Schönheit und ihren Sinn für Schönes nutzt sie dabei geschickt aus, um ihre Ziele zu erreichen. Sie schreckt auch nicht davor zurück, Situationen zu ihrem eigenen Vorteil auszunutzen, nicht ohne dabei auch selbst emotional in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Der Wunsch geliebt zu werden und das Wissen um die Vergänglichkeit von Schönheit sind es aber letztlich auch, die aus einer beinah familiären Idylle mit ihrer Schwester Lientje und ihrem Mann Hannes einen Sog aus Raserei und Wahn entstehen lassen und sowohl das Leben jedes einzelnen Beteiligten als auch ihr gemeinsames, sehenden Auges jäh beenden.

Marianne Philips Roman beeindruckt so sehr wegen seines Tiefgangs und weil er dem Lesenden die Psyche der Hauptfigur schonungslos und mit all seinen Unzulänglichkeiten und vermeintlichen Fehlern preisgibt. Dass ihr diese fast nachfühlbaren und teilweise auch beklemmenden Beschreibungen so eindrucksvoll gelungen sind, mag auch daran liegen, „dass der Roman gewissermaßen Teil von Marianne Philips' Therapie war und von ihrem Wunsch zeugt, sich selbst kennenzulernen, auch wenn das eine Auseinandersetzung mit den dunkelsten Seiten ihrer Seele erforderte.“ (S. 148) Wie wir heute von ihrer Enkelin wissen. Damit ist Die Beichte einer Nacht ein Nachspüren und Erforschen des eigenen Lebens, der eigenen Identität, der eigenen Biografie, ohne dafür – wie es der Titel vielleicht vermuten lässt – Absolution zu erwarten. Ohne es zu wissen, würde man wohl kaum darauf kommen, dass der Roman bereits vor über 90 Jahren geschrieben wurde und gerade die sehr persönlichen Erfahrungen, die die Autorin hier verarbeitet hat, machen ihn nahezu zeitlos und absolut wert, ihn auch 2021 und darüber hinaus zu lesen.

In der nächsten Woche stellt Irmgard Lumpini Sinéads O'Connors neue Autobiographie "Rememberings" vor und geht der Frage nach, was eigentlich nach dem Welterfolg der ersten Alben und dem großen Skandal des zerrissenen Papstbildes wurde.

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